Johanna Terhechte
shifting
05.10.-02.11.2024

Die ortspezifische Arbeit „shifting“ von Johanna Terhechte umfasst eine Videoarbeit, die auf eine eingezogene, dünne Pappwand projiziert wird. Auf dem Dachboden der Schillerpark-Siedlung von Bruno Taut verschmilzt der Außenraum mit dem Innenraum: Durch einen abtastenden Kamerablick wird das architektonische Gemäuer in Bewegung gesetzt.

Terhechtes Arbeit initiiert wechselnde Perspektiven, die sowohl räumlich als auch körperlich erfahrbar werden. Mithilfe einer verspiegelten Oberfläche im Außenbereich der Siedlung entstehen Aufnahmen, die sich durch Entfremdung und Verzerrung einer konkreten Verortung entziehen.

Im Moment der Spiegelung vervielfachen sich die Betrachtungsebenen – der Raum wird zugleich aufgelöst und verdoppelt. Das Verhältnis zwischen Raum und Körper verzerrt sich, da ein „Hier“ und „Dort“ gleichzeitig existieren. Die Grenzen zwischen Innen und Außen verschwimmen, und obwohl ich fest auf dem Boden stehe, wird mir schwindelig.

Dieser Aspekt der Verdopplung setzt sich in Kästen fort, die unterschiedlich tief in den Ausstellungsraum ragen. Ihre glänzenden Oberflächen reflektieren sowohl die Videoarbeit als auch die Umgebung. Auch sie ermöglichen eine veränderte Wahrnehmung der starren Architektur.

Im Kontrast dazu stehen die ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen der Videoarbeit: langsame Schwenks, Zooms und handgeführte Tracking-Aufnahmen ziehen kreisförmige Schleifen und Runden. Sie entziehen sich einem linearen Erzählstrang und folgen stattdessen einer choreografischen Bewegung. Das Auge sucht einen Fixpunkt, einen Moment des Stillstands, an dem es verweilen kann.

Ein dröhnender, entfremdeter Sound verstärkt das Gefühl der Verunsicherung. Gelegentlich lassen sich Stimmen, Hundebellen oder Vogelgezwitscher erkennen. Die extreme Verlangsamung und Dehnung der Geräusche transformiert sie in ein subtil präsentes, aber dennoch durchdringendes Hintergrundrauschen.

Ich muss vor der Arbeit stehend viel an Zeitlichkeit denken. Der Begriff entzieht sich mir beim Betrachten; die Zeitstruktur des Videos wirkt eher zirkulär als linear – da bin ich wieder beim Schwindel. Die Arbeit folgt weder einer üblichen Zeiterfahrung noch einem konkreten Zeitverlauf. Sie gleicht einem flüchtigen Spiegelbild, das nur für einen Moment sichtbar ist und die Wahrnehmung verschiebt.

Gedanklich suche ich wieder nach einem Fixpunkt – und finde ihn auf drei Ankündigungstafeln in der Siedlung. Dort ist eine Edition des Verlagsprojekts SOLBATEMIM von Ludwig Kuffer, Simon WienkBorgert und Johanna Terhechte angebracht. Diese fotografische Arbeit lässt die Uhrzeiger stillstehen, bei 15:15, 15:28 und 15:34. Der Moment des suggerierten Stillstands wird durch die abgebildeten roten Plastikgeranien, in die die Uhrzeiten eingeprägt sind, zusätzlich verstärkt.

Mein Blick folgt dem Rot und entdeckt vereinzelte rote Punkte auf den Balkonen der Siedlung. Alles scheint doppelt. Die Vielzahl an Verdopplungen – die Kästen im Raum, ihre Reflexionen und die Überlagerungen auf der Projektionsfläche – fordert unser Sehen heraus. Die Arbeit lädt zu einem verweilenden Betrachten ein, da sich die visuellen Eindrücke einer sofortigen Erfassung entziehen.

In Terhechtes Werk entsteht eine Präsenz, die sich ständig neu aufbaut und wieder auflöst. Trotz allem bleibt die Wahrnehmung verfremdet – alles ist spiegelverkehrt.

Tabea Marschall

Johanna Terhechte’s site-specific work shifting includes a video piece projected onto a thin, retractable cardboard wall. In the attic of the Schillerpark housing estate by Bruno Taut, the exterior space merges with the interior: through a scanning camera movement, the architectural structure is set into motion.

Terhechte’s work initiates shifting perspectives, which become both spatially and physically experienceable. Using a mirrored surface in the outer area of the estate, images are created that elude a concrete sense of place through alienation and distortion.

At the moment of reflection, the layers of observation multiply—the space is simultaneously dissolved and doubled. The relationship between space and body is distorted, as a “here” and “there” exist at the same time. The boundaries between inside and outside blur, and although I stand firmly on the ground, I feel dizzy.

This aspect of doubling continues in boxes that protrude into the exhibition space at varying depths. Their shiny surfaces reflect both the video work and the surrounding environment. They too allow for a transformed perception of the rigid architecture.

In contrast, the calm, steady movements of the video work: slow pans, zooms, and hand-held tracking shots trace circular loops. These resist a linear narrative and instead follow a choreographed movement. The eye seeks a focal point, a moment of stillness where it can linger.

A booming, alienated sound intensifies the sense of disorientation. Occasionally, voices, barking dogs, or birdsong can be heard. The extreme slowing down and stretching of the sounds transforms them into a subtly present, yet penetrating background hum.

Standing in front of the work, I find myself thinking a lot about temporality. The concept eludes me as I watch; the time structure of the video feels more circular than linear—and here I am again, with dizziness. The work follows neither a conventional experience of time nor a concrete timeline. It resembles a fleeting reflection that is only visible for a moment and shifts perception.

In my thoughts, I once again search for a focal point—and I find it on three announcement boards in the estate. There is an edition of the publishing project SOLBATEMIM by Ludwig Kuffer, Simon WienkBorgert, and Johanna Terhechte. This photographic work freezes the clock hands at 15:15, 15:28, and 15:34. The moment of suggested stillness is further emphasized by the red plastic geraniums depicted, into which the times are engraved.

My gaze follows the red and discovers scattered red dots on the balconies of the estate. Everything seems doubled. The multiplicity of doublings—the boxes in the space, their reflections, and the overlays on the projection surface—challenges our perception. The work invites prolonged contemplation, as the visual impressions resist immediate comprehension.

In Terhechte’s work, a presence emerges that constantly rebuilds itself and dissolves again. Despite everything, perception remains alienated—everything is reflected.

Tabea Marschall

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