Ieva Raudsepa
Letters
30.05 – 19.06.2022

Open bills

The origin of the so-called "bulletin board" lies in the use of blackboards in pubs, on which it was recorded what the individual guest still had to pay. The exact amount of the outstanding bill was noted on the blackboard with chalk - which could be wiped away with a sponge as soon as the missing sum had been paid. "Schwamm drüber" is a German saying - the idiom has long since taken on a life of its own, just as people "chalk up" other people („ankreiden“).

A letter, too, is an open tab, an encroachment with which one puts the addressed party in the predicament of having to formulate a response. In the same way that pub-goers at some point no longer dare go near their favorite pub, when the payment is delayed for too long, those who receive a letter - and do not answer it - eventually have to avoid the sender.

Writing a letter costs time - and spending time for someone without being paid for is (regardless of the exact relationship) an act of love. So every letter is a kind of love letter. And if unanswered, also here a bill remains open - even if its repayment is symbolic, not material. Words can be just as valuable as bills or coins.

The Schillerpark Estate is located in the so-called English Quarter in Berlin Wedding. It was designed by Bruno Taut in the 1920s and represents, in the tradition of "social housing", a planned neighborhood. So it is no coincidence that on Oxforder Straße hangs a "bulletin board", which in this specific case is made of wood and therefore weathered.

The new Art Space OxfordBerlin brings this almost forgotten format back to life and, as the name suggests, expands beyond the city limits of Berlin. The 66,5 cm wide board becomes (and carries) an international space - artist Ieva Raudsepa will fill it with letters from Riga. For three weeks, every two days, she is proposing new thoughts on current events. The artist writes emails that are aware of their quality of being a conversation without a concrete counterpart - and yet are not a soliloquy.

The bill remains open - but those addressed are allowed, without guilt, to come closer. They don't need to avoid the blackboard, like in the pub when the shots haven't been paid for yet - because the hostess doesn't hold it against them. On the contrary, they are getting another drink on the house.

Olga Hohmann

Offene Rechnungen

Der Ursprung des so genannten „schwarzen Brettes“ besteht in dem Gebrauch von Tafeln in Wirtshäusern, auf denen notiert wurde, was der einzelne Gast zu zahlen hatte. Auf der Schiefertafel wurde mit Kreide der genaue Betrag der noch offenen Rechnung notiert – der nach dem Begleichen der Summe gleich wieder mit einem Schwamm weggewischt werden konnte. „Schwamm drüber“ sagt man im Deutschen – die Redensart hat sich längst verselbständigt, ebenso wie man andere Menschen „ankreidet“.

Auch ein Brief ist eine offene Rechnung, ein Übergriff, mit dem man die adressierte Partei in die Bredouille bringt, eine Antwort formulieren zu müssen. Ebenso wie die Wirtshaus-Besucher*innen sich, bei zu lange verzögerter Zahlung, irgendwann nicht mehr in die Nähe ihrer Stammkneipe trauen, so machen auch diejenigen, die einen Brief erhalten- und nicht beantworten - irgendwann einen Bogen um die Absenderin

Einen Brief zu schreiben kostet nämlich Zeit – und Zeit für jemanden aufzubringen, ohne dafür bezahlt zu werden, ist (egal um welches Verhältnis es sich genau handelt) ein Akt der Liebe. Jeder Brief ist damit also eine Art Liebesbrief. Und unbeantwortet bleibt auch hier eine Rechnung offen - auch wenn ihre Rückzahlung symbolisch ist, nicht materiell. Worte können ebenso viel Wert sein wie Scheine oder Münzen.

Die „Siedlung Schillerpark“ liegt im so genannten „Englischen Viertel“ im Berliner Wedding. Sie wurde in den 20er Jahren von Bruno Taut entworfen und stellt, in der Tradition des „Sozialen Wohnungsbaus“ eine geplante Nachbarschaft dar. Es ist also kein Zufall, dass auf der Oxforder Straße ein „Schwarzes Brett“ hängt - das in diesem Fall aus Holz besteht, und deshalb mittlerweile verwittert ist.

Der neue Art Space OxfordBerlin lässt dieses fast vergessene Bezugssystem wieder zum Leben erwachen. Das 66,5 cm große Brett wird zum Raum – die Künstlerin Ieva Raudsepa wird ihn drei Wochen lang alle zwei Tage mit Briefen aus Riga füllen. Die Künstlerin schreibt Emails, die sich ihrer Qualität, ein Gespräch ohne konkretes Gegenüber zu sein, bewusst sind – und die dennoch kein Selbstgespräch sind.

Die Rechnung bleibt offen – aber die Angesprochenen dürfen, ohne Schuldgefühle, näherkommen. Sie brauchen keinen Bogen um die Anzeigetafel machen, wie in der Stammkneipe, in der die Schnäpse noch nicht bezahlt sind – denn die Wirtin nimmt es ihnen nicht übel. Im Gegenteil, sie spendiert einen Kurzen aufs Haus.

Olga Hohmann